Leidenschaftlich und offen glauben (II): Bewahren oder entwickeln?

Von progressivem und konservativem Denken, unseren Idealen, warum Frauen in manchen Gemeinden predigen dürfen und in manchen nicht und warum die Liebe schon wieder alles durcheinander bringt.

Schon Teil 1 dieser Serie gelesen?

Progressiv, ein Wort, das man falsch verstehen kann. Deshalb etwas Wichtiges vorab: Der Begriff „progressiv“ will nicht Andere als „rückständig“ brandmarken. Er ist kein Abgrenzungsbegriff für die, die sich modern und deswegen konservativen Christen voraus fühlen. Denke nicht an fortschrittlich, denke an fortschreitend!

Dieser Glaube bejaht die stete innere und äußere Weiterentwicklung und damit Veränderung – von uns als einzelnen Persönlichkeiten, aber auch von uns als ganze Christenheit, ja als ganze Menschheit.

Damit ist er der Kontrast zum konservativen Streben danach, Glaube und Ethik einer bestimmten Zeit, nämlich der des neuen Testaments, im Kern unverändert durch die Jahrtausende zu bewahren. In der Annahme, dass die damaligen Aussagen dauerhaft gültig und ideal sind, weil so von Gott angelegt.

Das gilt nicht nur für Christen. Ganz allgemein sind bewahren und weiterentwickeln, also konservatives und progressives Streben zwei unterschiedliche Wege, die Welt zu verstehen und in ihr zu agieren. Und jeder von uns hat beide Impulse in sich. Einer von beiden überwiegt allerdings in der Regel.

Konservatives Denken will Tradition bewahren

Wenn wir konservativ denken, beziehen wir uns auf etwas Bestehendes, das wir als optimal erkennen, zum Beispiel eine Überzeugung, eine bestimmte Organisationsform oder eine ganze Weltanschauung. Und wir sind bestrebt, diesem Optimum in seinem Handeln und Denken gerecht zu werden, es möglichst zu bewahren oder wieder herzustellen, falls es verloren gegangen ist. Neue Situationen oder Konstellationen werden immer an diesem Ideal gemessen und in der Folge akzeptiert, kritisch begleitet oder abgelehnt.

Im christlichen Kontext können das zum Beispiel biblische Vorschriften oder Verbote sein. Wenn Paulus an einer Stelle sagt, dass Frauen in der Gemeinde nicht lehrend auftreten sollen, dann fragt die konservative Argumentation: Wird das irgendwo innerbiblisch aufgehoben oder relativiert oder ist es klar auf den damaligen Kontext beschränkt?

Wenn nicht, dann gilt es dauerhaft, bis heute. Und so gibt es nach wie vor christliche Kirchen, in denen Frauen – aus der Bibel begründet – nicht predigen oder Priesterin werden dürfen.

Konservatives Denken ist meistens klar und verlässlich, hat aber wenig Spielraum für Abweichung und Veränderung vom einmal festgelegten Kurs. Konservatives Denken sieht freilich gerade das als eigene Stärke.

Progressives Denken will Tradition weiterentwickeln

Progressiver Glaube dagegen sieht Gottes Auftrag an uns darin, unsere Erkenntnis der Welt und von Gott und unsere ethische Haltung stetig weiterzuentwickeln und für unseren Kontext neu zu definieren. Wenn wir progressiv denken, wollen wir Handeln je nach Situation gestalten und an die veränderten Gegebenheiten um uns herum anpassen. Wir nehmen wahr, wenn ein Zustand mangelhaft oder einfach nicht mehr passend ist und beschließen, ihn zu verbessern.

Daraus entsteht ein erstrebenswertes Ziel. Das Ideal ist dann noch keine Realität, wir sind aber gewillt, es zur Realität zu machen. Wir sehen es als Fortführung der bisherigen Geschichte, in der wir jedes jeweils erreichte Ideal irgendwann in etwas noch Besseres oder zur veränderten Zeit besser Passendes entwickelt haben.

Wir sind uns dann unserer eigenen und geerbten Vergangenheit also sehr bewusst und sehen uns in ihrer Tradition. Sie ist Rahmen und Ausgangspunkt für den jeweils nächsten Schritt, den es zu gehen gilt und der die Traditionslinie weiterentwickelt. Dazu gehört es, altes über Bord zu schmeißen und auch das Neue steht immer unter dem Vorbehalt der zukünftigen Veränderung. Für die progressive Seite in uns ist nichts endgültig.

Im christlichen Kontext nehmen wir biblische Aussagen, Vorschriften und Verbote als Momentaufnahme im Rahmen einer größeren Entwicklung wahr. Wenn Paulus schreibt, dass Frauen in der Gemeinde nicht lehrend auftreten sollen, dann fragt die progressive Argumentation: Was hat diese Aussage in der damaligen Situation richtig gemacht? Und was können wir daraus für die Bewertung dieser Frage in den heutigen, völlig veränderten Umständen lernen, ohne den damaligen Erkenntnisstand einfach zu kopieren?

Und so gibt es heute viele christliche Kirchen, in denen Frauen biblisch begründet predigen und Pastorin oder Bischöfin werden dürfen.

Zwei Beobachtungen

Das Beispiel der Rolle der Frau zeigt zweierlei:

Erstens: Beide Denkweisen gründen Ihren Standpunkt in intensivem Bibelstudium. Es macht also keinen Sinn, dem Anderen vorzuwerfen, die Bibel nicht ernstnehmen zu wollen. Konservativer Glaube will die Bibel ernst nehmen, in dem er ihre Anordnungen möglichst treu ins Heute umsetzt. Progressiver Glaube will die Bibel ernst nehmen, in dem er ihre Anordnungen im damaligen Kontext betrachtet und daraus eigenständige Schlüsse für heute zieht.

Zweitens: Keiner von uns denkt nur konservativ oder nur progressiv. Beides sind Tendenzen, die in jedem unterschiedlich stark vorhanden sind und sogar von Thema zu Thema variieren können. Die Frage ist nur: Von welcher Seite lasse ich mich bestimmen?

Viele konservative Christen akzeptieren inzwischen Frauen auf der Kanzel, obwohl sie vorher lange dagegen argumentiert haben. Wenn sie das tun, handeln sie in dieser Frage trotz ihrer konservativen Grundhaltung progressiv – weil sie ihre Ethik innerhalb der christlichen Traditionslinie an die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen (und wenn sie ehrlich sind auch einfach an ihr Lebensgefühl). Sie suchen dann oft noch die Legitimation aus der Bibel dafür. Der Motor für Veränderung ist für konservatives Denken aber selten die Bibel.

Jeder von uns kennt seine eigenen Widersprüche und Überraschungen. Nur wenige Leute lassen sich zeitlebens in dieselbe Schublade stecken und sind völlig vorhersehbar. Und das ist ja auch gut so. Sonst wäre die Welt ja ziemlich langweilig. Und würde sich nicht entwickeln.

Ideale und Werte

Und noch etwas spielt in die Gleichung: Beide – die konservative wie die progressive Argumentation – sind durchwoben von einem für jeden individuellen Mix aus Werten, Idealen und Gefühlen: Manchmal sehr bewusste Entscheidungen für Werte und Ideale, manchmal schwer zu steuernde Gefühle: Liebe, Freiheitsdrang, Durst nach Gerechtigkeit, Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Transparenz, aber auch: Angst vor dem Fremden oder vor dem Versagen, Perfektionismus, Selbstüberschätzung, eine tief sitzende Verbitterung und vieles andere.

Das alles kann unsere grundsätzliche Tendenz zu konservativem oder progressivem Denken abschwächen oder uns sogar dazu bringen, ganz entgegengesetzt zu handeln. Ein ganz bewusstes Ideal sowohl von Jesus als auch Paulus war zum Beispiel die Liebe, man denke nur an Jesu Befehl, selbst seine Feinde zu lieben, und Paulus’ „Hohelied der Liebe“ in 1. Korinther 13.

Ein Konservativer kann sich von der Liebe leiten lassen und trotz theologischer Bedenken etwas akzeptieren, was Anderen offensichtlich gut tut. Entsprechend kann sich ein Progressiver von der Liebe leiten lassen und auf etwas verzichten, das zu tun er eigentlich die Freiheit spürt, was aber für den Konservativen ein echtes Problem wäre. Diesen Fall beschreibt ja Paulus in Römer 14 ausführlich.

Die Verantwortung des Menschen

Allein mit diesen Entscheidungsmöglichkeiten überträgt Gott uns eine Menge Verantwortung über den richtigen Weg. Wo siegt die Liebe über biblische Weisung? Wo ist für den Konservativen die biblische Aussage absolut?

Progressive Theologie generalisiert diesen Aspekt. Sie sieht jeden Menschen und jede Generation in der Pflicht für die verantwortliche, aber eigenständige Entscheidung, welches jeweils der richtige Weg in der jeweiligen Lage ist – basierend auf den Wegpunkten, die Jesus, das neue Testament, die (Kirchen-)Geschichte, die eigene Gesellschaft und die eigene Biographie gesetzt haben.

Wie hat Gott die Welt angelegt?

Man kann also fragen: Gibt es eine stetige, von Gott gewollte, gesellschaftliche und geistliche Weiterentwicklung der Menschheit (jenseits unseres persönlichen Wachstums zwischen Jugend und Alter)? Hat Gott die Welt so angelegt, dass sie immer besser und schöner und unsere Erkenntnis eben dieser Welt und Gottes immer reicher wird?

Oder gab es einen Punkt X, an dem alles gesagt war, und unser Ideal ist es, uns daran zu orientieren und diesen Stand durch die Jahrhunderte zu bewahren, auch wenn die Welt langsam zerfällt?

Der große Konsens konservativer Theologie

Letztere Variante ist für konservative Theologie Konsens, ja definiert sie: Die Wahrheit liegt in Form der Bibel auf dem Tisch und unsere Aufgabe heute ist es, diese Wahrheit in einem neuen Kontext zu verkünden.

Man geht von einer fest stehenden Selbstoffenbarung Gottes im Alten und Neuen Testament aus, an der es nichts zu rütteln gibt. Sie zu konservieren und weiterzugeben ist der Auftrag.

Dann ist es freilich auch konsequent zu sagen, dass heute dieselben ethischen Maßstäbe gelten wie zur Zeit der Bibel – ganz unabhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Stand, der ja (vermeintlich) nur die „gefallene Welt“ darstellt.

Dann sind die Christen mit der biblischen Botschaft und Ethik Felsen in der gesellschaftlichen Brandung ihrer jeweiligen Zeit und bewahren die Gesellschaft im besten Falle davor, falsche Wege zu gehen.

Der große Konsens progressiver Theologie

Progressive christliche Theologie ist stattdessen davon überzeugt, dass Gott uns die Aufgabe einer verantwortungsvollen Weiterentwicklung (nicht nur) von Theologie und Ethik übertragen hat. Sie geht davon aus, dass mit Jesu Leben, Sterben und Auferstehen ein neuer zentraler Referenzpunkt geschaffen wurde, mitten in der jüdischen Tradition, aber doch weit darüber hinaus gehend. So weit, dass er eine neue Tradition begründete, wie man von Gott sprechen kann – die christliche. Das neue Testament ist für progressive Theologie damit eine erste Auslegung von Jesus Leben, Sterben und Auferstehen – aber bei weitem nicht die letztgültigen.

Neutestamentliche (genau wie alttestamentliche) Standpunkte und ethische Bewertungen sind für progressive Theologie Referenzpunkte, auf die sie sich auch heute noch bezieht – sogar sehr zentral wegen der hohen Bedeutung und zeitlichen Nähe zu den Ursprungsereignissen. Aber sie erkennt statt einer göttlichen Pflicht, sie bis heute unverändert zu übernehmen, im Gegenteil die göttliche Aufgabe, die mit Jesus begründete Tradition für die jeweils aktuelle Zeit und Situation zu verstehen und zu adaptieren.

Weiterlesen: Teil III über die DNA der Schöpfung, befreite Sklaven, Energiepolitik und warum Gott die Welt so gemacht hat, wie sie ist.

Teil IV übermorgen, über Gottes Wille, den Wert des Heute und warum Jesus und Paulus progressiv dachten und handelten.

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Kommentare

Ein Kommentar auf "Leidenschaftlich und offen glauben (II): Bewahren oder entwickeln?"

  1. JK says:

    Danke für diesen Artikel. Erklärt die Spannung zwischen „konservativ“ und „progressiv“ sehr gut.

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